Mittwoch, 16. November 2011

"Ich wusste nicht, dass deine Haut so weich ist..."

sagt Robert, nachdem Vera sich die schönen Brüste geritzt hat. Sie solle nicht so heftig atmen,bittet er, als er auf dem Operationstisch ihre Wunden versorgt. Es werden keine Narben bleiben. Ihre Hautoberfläche wird so rein und perfekt sein, wie der körpernahe, hautfarbene Overall, den Vera tagsüber trägt. „Wenn dich mein Atmen stört, töte mich.“, erwidert sie in Pedro Almodovars neuem Film: "Die Haut, in der ich wohne".

Akt der Schönheit
Auf dem Anwesen „El Cigarral“ hält Doktor Robert Ledgard (Antonio Banderas) Vera (Elena Anaya) gefangen. Jede ihrer Regungen überwachen er und seine Haushälterin über Monitore. In seinem Schlafzimmer ist in die Wand ein riesiger Bildschirm eingelassen, der Nahaufnahmen der Schönen live überträgt. Als er es zu Beginn des Films betritt, liegt sie mit dem Rücken zu ihm in klassischer Venus-Pose lesend auf einem Sofa, den Arm aufgestützt, eine vollkommene geschwungene Linie vom Oberkörper über Hüften und Gesäß in das Auslaufen der schlanken Beine und Fesseln; eine Rückenansicht der prachtvollen Venus, so scheint es, die als Renaissance-Gemälde überlebensgroß in Doktor Ledgards Treppenaufgang hängt.


Wie ein moderner Frankenstein erscheint Ledgard in der ersten Hälfte des Films, ein kühler, beherrschter Mann, der jedoch auch über Humor und Charme verfügt. „El Cigarral“, den ererbten Landsitz hat er zu einer diskreten Operationsklinik für Hauttransplantationen umgebaut, ein hochqualifiziertes Team unterstützt ihn bei den Operatione. Zugleich forscht Doktor Ledgard an einer künstlichen Haut, der er den Namen „Gal“,  den Namen seiner verstorbenen Frau, gibt. Diese Haut gewinnt er durch Transgenese, das Verschmelzen tierischen und menschlichen Erbguts. Nach einem Vortag zu „Gal“ wird er vom Leiter der Forschungsgesellschaft beiseite genommen, der ihn ermahnt: Dieser Forschungsansatz sei aus ethischen Gründen verboten. Ledgard verspricht, sich zurückzuhalten. Was sein Kollege nicht weiß: Das Experiment mit Vera ist schon vollendet. Auch ihr verspricht Ledgard an diesem Abend, dass keine weiteren Operationen mehr folgen werden.

Haut in Fetzen
Pedro Almodovar erzählt diese phantastische Geschichte in durchgestylten Bildern, so farbenfroh und geschmackvoll Tradition und Moderne kombinierend wie die Inneneinrichtung von „El Cigarral“. Lange Einstellungen, langsame Kamerafahrten – er lässt sich Zeit, den Zuschauern dieses perfekt eingerichtete Leben vorzuführen, das Ledgard für Vera so exakt zusammengesetzt hat wie die Haut auf ihrem Körper. Durch einen Speisenaufzug erhält Vera  sorgfältig zubereitete Mahlzeiten. Über die Sprechanlage kann sie ihre Wünsche an die Haushälterin übermitteln. Ihre großzügig bemessene Zelle ist mit Büchern ausgestattet, einem Plasmabildschirm, Fitnessbällen und Yogamatte.  Durch Übungen stählt sie ihren Körper, sie liest viel und mit ihren Händen verschafft sie sich Ausdruck, indem sie fragmentierte und geflickte Körper aus Stofffetzen und Klebstoff gestaltet, die denen Louise Bourgeois´ ähneln. Die Schönheit dieser Innenwelt hinter den verschlossenen Gittertoren von „El Cigarral“ ist grausam verstörend, denn keinen Augenblick kann man vergessen, was der Preis dieses „Paradieses“ ist: die völlig Unterwerfung unter den Wahnsinn eines Ungeheuers, des scheinbar so gelassenen Doktors, der sich hier seine vollkommene Frau erschafft und hält.

Karneval
Dann kommt der Bruch: Am Tor von „El Cigarral“ klingelt ein Tiger, Zeca (Roberto Alamo), der Sohn der Haushälterin, im Karnevalskostüm, ein brutaler Krimineller. Mit seinem Erscheinen ändert sich die ganze Ästhetik des Films. In die „schöne neue Welt“ dringt die ungezähmte Gewalt, die unsublimierte Geilheit, der schlechte Geschmack, die direkte Aktion ein. Der Tiger will Geld – und Ficken. Er ist der Sohn der Haushälterin, die er rücksichtslos auf einem Stuhl fesselt und knebelt, um Vera, die er auf den Monitoren gesehen hat, zu vergewaltigen. Als er sie stößt, schreit sie vor Schmerzen und er ruft verwundert aus: „Früher war er dir nicht zu groß.“ Ledgard erscheint und steht mit dem Revolver vor den Kopulierenden. Einen Augenblick ist ungewiss, ob er Vera erschießen wird oder Zeca. Der Schuss fällt, das Laken färbt sich rot, Ledgard zieht die zitternde Vera unter dem Toten hervor und trägt sie aus dem Zimmer.

Tragödien
Nun sitzt Vera in der Küche. Marilia (Marisa Paredes), die Haushälterin erzählt. Eine Serie von Rückblenden setzt ein: Zeca war der Liebhaber von Ledgards Frau Gal. Sie verbrannte im Auto, in dem sie mit ihm fliehen wollte. Die kaum noch Lebende, völlig Entstellte, pflegte Ledgard. Doch als sie ihr Spiegelbild in einem Fenster erblickte, stürzte sie sich in den Tod, vor die Füße ihrer Tochter Norma. Jahre später nimmt Ledgard die schwer gestörte Tochter, die in psychiatrischer Behandlung ist, mit zu einer Hochzeitsfeier, wo sie einen jungen Mann kennenlernt. Im Garten haben zu fortgeschrittener Stunde die Paare Sex, auch Normas Verehrer will sie – im wahrsten Sinne des Wortes - flachlegen. Anfangs lässt sie es geschehen, dann wehrt sie sich und schreit. Er haut ihr eine runter, sie bleibt bewusstlos liegen, er braust auf seinem Motorrad davon. Ledgard, der nach seiner Tochter sucht, sieht ihn davon fahren. Wenig später stürzt sich auch Ledgards Tochter in den Tod. Doch dieser hat inzwischen schon den Vergewaltiger entführt und hält ihn in einem Kellergewölbe gefangen. Der junge Mann heißt Vicente (Jan Cornet).

Wer ist wer?
Vicente ist Vera. Vera ist Vicente. Vaginalplastik. Hinter dem Experiment des Opiumrauchers Ledgards stecken Rache, Schuld und enttäuschte, zurückgewiesene Liebe. „Alle deine Frauen haben dich verlassen.“, sagt Marilia. Sie sagt auch: „In meinen Eingeweiden trage ich den Wahnsinn.“ Sie ist die Mutter von Zeca und Robert, erfahren Vera und die Zuschauer.„Töte ihn.“, rät sie Robert, als dieser auf dem Monitor sieht, wie Zeca Vera vergewaltigt. „Töte sie beide.“ Ihre brüchige Stimme erzählt einen Teil der Geschichte, den nämlich zweier Halbbrüder, deren Mutter Marilia den einen verstieß, um bei dem anderen bleiben zu können, der als Sohn der reichen Familie aufwächst, deren Dienstmädchen sie ist. Eine Mutter ist sie, deren Liebesverlangen übermächtig ist, bis zur Komplizenschaft mit den Verbrechen ihrer Söhne und die doch erkennt,  Monster geboren zu haben, die nicht zu retten sind. Zeca ist, was die Straße aus ihm gemacht hat: roh, geil, gierig und Robert ist, was das edle Anwesen aus ihm gemacht hat: sehnsüchtig, verletzt, unterdrückt. Und beide sind unfähig einen anderen Menschen als Anderen wahrzunehmen. Zeca wundert sich, dass das Küchentuch beim zweiten Knebeln schlechter in den Mund seiner würgenden Mutter passen will als beim ersten Mal und stopft brutal zu. Robert traut Vera, die er sich nach dem Bild seiner Frau Gal, die ihn verlassen wollte, geschaffen hat und schickt sie mit Kreditkarten versehen in die Freiheit, vergessend, dass sie - auch - Vicente ist. Dafür wird er bezahlen müssen. Da hilft  keine Gleitcreme, damit er Vera „von hinten“ nehmen kann. Am Ende kehrt Vera heim. Vicente steht im Laden seiner Mutter im Schlussbild. Sie erkennt ihn/sie (noch) nicht. Er wird nie wieder Vicente sein. Wer ist Vera?
Sehnsucht und Menschlichkeit
Es ist viel geschrieben worden über Bioethik, Geschlechteridentität, Kunst- und Filmgeschichte, Themen, die Almodovars Film diskutiere, benutze, verrühre. Tatsächlich schafft es der Film Trash und Hochkultur, Groschenthriller und Weltliteratur,  Pop und Jazz miteinander zum Tanzen zu bringen. Alle Figuren sind Ungeheuer – und verletzte Kinder. Sie sehnen sich nach Nähe – und können sie nicht ertragen. Sie stehen nicht für bipolare Prinzipien: männlich/weiblich, alt/jung, hässlich/schön, reich/arm. Sie tragen diese Zuschreibungen als „Haut, in der sie wohnen“. Eine zusammengeflickte Haut. Lächerliche Schnittstellen. Je mehr sie sich bemühen, diese unsichtbar und undurchlässig zu machen, desto wahnwitziger werden sie, desto unstillbarer ihre Sehnsucht, desto unfähiger sind sie, einander wahrzunehmen.
Pedro Almodovar hat einen gruseligen, verstörenden, aber auch tröstlichen Film geschaffen. Denn Vera/Vicente, die/der an die Wand schrieb, Tag für Tag: „Respiro“ (Ich atme.) wird atmen. Und leben. Als wer? Nicht als Geschöpf Dr. Ledgards jedenfalls. „Gepredigt wird nicht, geschockt kaum, es geht ums Necken und Verstecken, nicht um billige Erleuchtungssurrogate.“, schrieb Diethmar Dath in der FAZ. Ja, Almodovar lehrt nicht. Doch er weckt Neugier, Mitgefühl, Zärtlichkeit – für die Sehnsucht des anderen. Das ist viel. Und menschenfreundlich. 

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